Sonntag, 25. Mai 2025

Erkenntnis ist das Erwachen

 Shiva Sutra 2 3


ज्ञानं जाग्रत्

(jñānaṁ jāgrat)


ज्ञानम्   jñānaṁ Wissen, Erkenntnis, Bewusstsein

जाग्रत्  jāgrat Wachsein, Erwachen, bewusstes Sein


Jñānaṁ jāgrat“

„Erkenntnis ist das Erwachen.“

(Sutra 2.3)


Kommentar zu „jñānaṁ jāgrat“ – Wissen ist Erwachen


> „ज्ञानं जाग्रत्“ – „Wissen ist Wachsein.“

Śiva Sūtra, Kapitel II, Sūtra 3


Was bedeutet es, zu wissen? Was heißt es wirklich, zu erwachen? In diesem prägnanten Sūtra des kaschmirischen Shivaismus liegt ein spirituelles Mysterium verborgen: Wissen ist nicht das Sammeln von Informationen, sondern das Entdecken einer Dimension des Seins, die jenseits aller Dualität liegt – ein Erwachen in das, was immer schon ist.


Die integrale Sicht: Zwischen Philosophie, Wissenschaft und Mystik


Das Sūtra „jñānaṁ jāgrat“ lädt zu einem Verständnis von Wissen ein, das sowohl die Philosophie des Vedānta als auch die Lehren des Tantra, die Mystik des Westens und moderne Bewusstseinsforschung miteinander verwebt. Der Ausdruck „Wachsein“ ist dabei kein neurologischer Zustand, sondern ein existenzielles, spirituelles Aufwachen – eine radikale Klarheit, in der das Selbst als reines Bewusstsein erkannt wird.


Die Neurowissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass während tiefer Meditation das Default Mode Network (DMN) – jener Teil des Gehirns, der für Selbstreferenz und Ich-Erleben zuständig ist – still wird. In diesem Moment erfährt das Gehirn eine Art „Reset“, und Menschen berichten oft von einem Zustand reiner Präsenz, von Weite und tiefer Freude – Zustände, die dem „jāgrat“ dieses Sūtras entsprechen könnten. (vgl. Judson Brewer, The Craving Mind, 2017)


Das Licht des Erkennens: Metapher des Spiegels


Stell dir einen Spiegel vor, der von Staub bedeckt ist. Das Licht ist da, aber es wird nicht reflektiert. Wenn der Staub verschwindet, erscheint das Licht. Ebenso ist jñāna das immer gegenwärtige Licht, das im Erwachen (jāgrat) voll bewusst wird. Śiva ist dieser Spiegel – klar, unbewegt, alles reflektierend – und gleichzeitig ist er das Licht selbst.


Wie es Swami Vivekananda sagte:


> „Education is the manifestation of the perfection already in man.“


"Bildung ist die Manifestation der bereits im Menschen vorhandenen Vollkommenheit."


Auch Wissen ist nichts, das von außen kommt, sondern eine Enthüllung dessen, was immer schon da ist – verborgen unter den Schleiern von Avidyā, der Unwissenheit.


Jñāna in östlicher und westlicher Philosophie


In der antiken griechischen Philosophie findet sich eine ähnliche Vorstellung bei Platon, insbesondere im berühmten Höhlengleichnis. Dort wird das Erwachen als ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess beschrieben: Der Mensch löst sich aus den Fesseln der Illusion, steigt aus der Höhle ins Licht und erkennt die wahre Wirklichkeit. Dieses Erwachen ist kein intellektueller Prozess, sondern eine innere Transformation – das, was die Upanishaden als vidyā bezeichnen: das Wissen, das befreit.


Seneca wiederum schreibt:


> „Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“

Ein Satz, der im Kontext dieses Sūtras darauf hinweist, dass das Erwachen nur Mut zur inneren Umkehr verlangt.


Jñāna als lebendige Erfahrung


Was bedeutet das für den Übenden, den Meditierenden, den Suchenden? Es bedeutet, dass das Ziel nicht fern ist. Das Selbst ist nicht in weiter Zukunft zu finden, sondern in der Tiefe dieses einen Atemzugs. Wenn du dich jetzt still hinsetzt, die Gedanken vorbeiziehen lässt und nur wahrnimmst, dass du bewusst bist – dann berührst du den Raum, von dem dieses Sūtra spricht.


Sri Ramakrishna sagte:


> „Der Ozean des Bewusstseins liegt direkt vor dir, aber du gibst dich mit einem Tropfen zufriedengeben.“


Jñānaṁ jāgrat als zeitloser Weckruf


Dieses Sūtra ist mehr als ein philosophischer Satz – es ist ein Weckruf an das schlafende Bewusstsein der Menschheit. In einer Zeit globaler Krisen, in der äußeres Wissen explosionsartig wächst, während inneres Wissen verkümmert, erinnert es uns daran: Wahres Wissen ist nicht Information, sondern Transformation.


So wie ein Funke die Dunkelheit eines Raumes sofort vertreibt, so hebt ein Moment wahren Erkennens alle Illusion auf. Dieses Erwachen ist möglich – jetzt, hier, in dir. Oder wie es Aurobindo formulierte:


> „The first condition of inner freedom is the absolute realization that the Eternal is within us.“


"Die erste Bedingung für innere Freiheit ist die absolute Erkenntnis, dass das Ewige in uns ist."


Jñānaṁ jāgrat – Möge dieses Wissen in uns erwachen und uns erinnern, dass der Weg der Selbsterkenntnis kein Ziel kennt, sondern nur das leuchtende Jetzt.


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