Donnerstag, 8. Mai 2025

80 Jahre Traumakultur

 Rezension: Stephan Leberts "Der blinde Fleck in der eigenen Familiengeschichte" – Eine notwendige Auseinandersetzung mit der transgenerationalen Weitergabe von Trauma.


Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Deutschland weiter in einer Traumakultur.

Stephan Leberts Buch "Der blinde Fleck in der eigenen Familiengeschichte" ist weit mehr als nur ein Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur; es ist ein tiefgründiges und erschütterndes Zeugnis der anhaltenden Auswirkungen unbewältigter Traumata auf nachfolgende Generationen.

Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beleuchtet Lebert gemeinsam mit dem Trauma- und Stressexperten Louis Lewitan auf eindringliche Weise, wie die Schatten der Vergangenheit weiterhin in den Familien der Täter, Mitläufer und Opportunisten fortwirken. Anhand berührender Gespräche mit Betroffenen wird ein erschreckendes Bild gezeichnet von zwischenmenschlicher Kälte, diffusen Schuldgefühlen, Ängsten und einem Gefühl der Entwurzelung – Symptome einer tiefgreifenden seelischen Verwundung, deren Ursprünge oft im Dunkeln der Familiengeschichte liegen.

Leberts Buch bestätigt auf beklemmende Weise die These, dass wir weniger in einer "Erinnerungskultur" leben, als vielmehr in einer "Traumakultur". Während die öffentliche Debatte die Bedeutung des Gedenkens an die Gräueltaten der NS-Zeit betont, offenbart Lebert eine darunterliegende Schicht des unaufgearbeiteten Leids, das sich unbewusst von Generation zu Generation überträgt. Diese transgenerationale Weitergabe von Trauma, ein Konzept, das im Vedanta durch die Begriffe Vasanas (tiefe, unbewusste Eindrücke und Neigungen) und Samskaras (durch Handlungen und Erfahrungen entstandene Prägungen) eine Entsprechung findet, prägt tiefgreifend unsere Haltungen, Emotionen, Entscheidungen und unser menschliches Miteinander.

Im vedantischen Verständnis hinterlassen Erfahrungen, insbesondere traumatische, subtile Eindrücke im Geist (Chitta). Diese Vasanas und die daraus resultierenden Samskaras bilden ein unsichtbares Gepäck, das unser gegenwärtiges Erleben und Verhalten maßgeblich beeinflusst. Sie sind die Wurzeln unbewusster Muster, die sich in wiederholenden emotionalen Reaktionen, Beziehungsproblemen oder inneren Konflikten manifestieren können.

Leberts Buch illustriert auf erschütternde Weise, wie das bleierne Schweigen und die Verdrängung in Familien dazu führen, dass diese Vasanas und Samskaras ungefiltert weitergegeben werden und das Leben der Nachkommen belasten, ohne dass diese die eigentlichen Ursachen verstehen.

Die von Lebert beschriebenen Phänomene – die Unfähigkeit, Nähe zuzulassen, diffuse Ängste oder ein nagendes Gefühl der Unzugehörigkeit – können aus vedantischer Sicht als Ausdruck ungelöster emotionaler und mentaler Prägungen der vorherigen Generationen interpretiert werden. Solange diese "Schatten der Vergangenheit" nicht durch Selbstreflexion und eine bewusste Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte ans Licht gebracht werden, bleiben sie wirksam und perpetuieren möglicherweise destruktive Muster.

Leberts Buch ist somit ein wichtiger Beitrag zur Heilung dieser "Traumakultur". Indem es den Mut vieler Menschen würdigt, den Panzer des Schweigens zu durchbrechen und die schmerzhafte Wahrheit ihrer Familiengeschichte zu erforschen, zeigt es einen Weg auf, wie die Last der Vergangenheit angegangen und transformiert werden kann.

Die Auseinandersetzung mit dem "blinden Fleck" in der eigenen Familie ist ein erster, oft schmerzhafter Schritt, um die unbewussten Grundlagen für innere Konflikte und somit auch für äußere Konflikte wie Krieg zu verändern. Denn, wie ich treffend hervorheven möchte, kann Krieg und Leid letztendlich nur verschwinden, wenn wir die Ursachen dafür in unserem Inneren heilen. Meditation kann dafür eine wirksame Praxis sein. Individuell und kollektiv.

"Der blinde Fleck in der eigenen Familiengeschichte" ist ein aufrüttelndes und wichtiges Buch, das nicht nur für Nachkommen der Kriegsgeneration von Bedeutung ist. Es wirft ein Schlaglicht auf die universelle Dynamik der transgenerationalen Traumaweitergabe und ermutigt uns alle, die unbewussten Einflüsse unserer Herkunft zu reflektieren, um so zu einem tieferen Verständnis unserer selbst und unserer Beziehungen zu gelangen. Es ist ein Plädoyer für eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, nicht nur auf kollektiver, sondern vor allem auf individueller Ebene, um den Kreislauf des unbewussten Leids zu durchbrechen.

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