In einem kleinen Ashram, verborgen zwischen den dichten Wäldern von Vindhya, saß ein alter Rishi am Ufer eines klaren Sees. Seine Haare waren silbern wie Mondlicht, sein Blick so tief wie die Unendlichkeit des Himmels. Die Schüler versammelten sich um ihn, als er begann, eine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte, die seit Generationen weitergegeben wurde, eine Geschichte über Ahimsa, über den Frieden, der tiefer reicht als Waffen und Worte.
Das Kind der Stille
Vor langer Zeit, als die Erde noch jung war und die Könige mit großem Stolz ihre Länder regierten, lebte in einem fernen Reich ein Mädchen namens Shanta. Ihr Name bedeutete Frieden, doch ihre Welt war voller Unruhe. Ihr Vater, König Rudraya, war ein mächtiger Herrscher, dessen Schwert stets nach Blut dürstete. Er glaubte, dass Frieden nur durch Eroberung möglich sei, dass Stärke allein die Welt beherrschen könne.
Shanta jedoch war anders. Sie liebte den Morgenwind, der sanft durch die Banyanbäume strich, sie verstand die Sprache der Vögel und spürte das Flüstern des Flusses, wenn er von alten Zeiten erzählte. Während ihre Brüder das Kämpfen lernten, saß sie bei den Weisen im Ashram und lauschte den Lehren der Yogis. Besonders ein Wort hallte immer wieder in ihrem Herzen nach – Ahimsa, die Gewaltlosigkeit.
Die Prüfung der Wahrheit
Eines Tages wurde das Königreich von einem mächtigen Feind bedroht. Die Krieger bereiteten sich auf die Schlacht vor, das Eisen ihrer Schwerter klirrte wie ein Lied des Krieges. König Rudraya, stolz und entschlossen, rief Shanta zu sich.
„Meine Tochter“, sprach er, „du bist alt genug, um zu verstehen. Frieden kommt nicht durch Gebete oder Träume. Er kommt durch Macht! Morgen ziehen wir in den Krieg, und du sollst sehen, wie Frieden geschmiedet wird.“
Doch Shanta antwortete mit ruhiger Stimme: „Vater, wahre Stärke liegt nicht in der Faust, sondern im Herzen. Frieden kann nicht durch Blut geboren werden. Ich werde dir zeigen, dass Ahimsa stärker ist als jedes Schwert.“
Rudraya lachte. „Dann geh und beweise es. Wenn du die Feinde ohne Gewalt vertreiben kannst, werde ich dir glauben.“
Das Lied des Waldes
Shanta begab sich in die Wälder, dorthin, wo das feindliche Heer lagerte. Sie trug keine Waffen, nur eine Blume in ihrer Hand und ein Lied auf den Lippen. Ihr Lied war nicht laut, doch es vibrierte in den Herzen derer, die es hörten – eine Melodie aus alten Zeiten, gefüllt mit der Weisheit der Erde.
Die Soldaten, die sich auf den Kampf vorbereitet hatten, hielten inne. Etwas in ihrer Stimme ließ ihre Hände zittern, ihre Schwerter fühlten sich plötzlich schwer an. Als sie in ihre Augen blickten, sahen sie keine Angst, keine Wut – nur Mitgefühl.
Der feindliche König trat vor. „Was willst du, Mädchen?“ fragte er mit rauer Stimme.
„Ich will nichts als Frieden“, sagte Shanta. „Nicht durch Kampf, sondern durch Verstehen. Ich kenne den Schmerz des Krieges, ich habe das Leid gesehen. Aber was, wenn wir einen anderen Weg wählen?“
Der König lachte, doch dann sah er, wie seine eigenen Männer ihre Waffen senkten. Sie alle hatten das Lied gehört, das Lied, das die Ketten der Gewalt zerbrach.
Die Rückkehr des Lichts
Als Shanta in ihr Königreich zurückkehrte, folgte ihr kein Heer, keine Feinde, nur Stille. König Rudraya sah ihr in die Augen, und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er das Gewicht seiner Entscheidungen.
Er ließ sein Schwert fallen.
„Du hast mich gelehrt, was kein Krieg mir zeigen konnte“, sagte er leise. „Der wahre Kampf ist nicht gegen den Feind da draußen, sondern gegen die Dunkelheit in uns selbst. Ahimsa ist der größte Sieg.“
Von diesem Tag an wurde Shanta nicht als Prinzessin, sondern als Weise verehrt. Sie lehrte die Menschen, dass Frieden nicht erzwungen werden kann, sondern genährt werden muss – durch Mitgefühl, durch Verständnis, durch das unerschütterliche Vertrauen in die Kraft des Guten.
Und so, in jenen stillen Nächten, wenn der Wind durch die Banyanbäume flüsterte, erzählte man sich die Geschichte von Shanta, dem Kind des Friedens, das ohne ein Schwert eine ganze Armee besiegt hatte.
„Ahimsa ist nicht die Abwesenheit von Gewalt, sondern die Anwesenheit von Liebe.“
Shanti, Shanti, Shanti
Peace begins within