Kommentar: Zwischen Cancel Culture und kognitiver Vielfalt – ein Plädoyer für die Freiheit des Denkens
Was bedeutet es, wenn Stimmen nicht mehr gehört, sondern gelöscht werden? Wenn Debatten nicht mehr geführt, sondern abgewürgt werden? Die moderne Cancel Culture hat sich in vielen westlichen Gesellschaften zu einem stillen Zensor entwickelt, der im Namen moralischer Reinheit allzu oft die Meinungsfreiheit einschränkt. Dabei geht es nicht mehr nur um das Korrigieren offensichtlicher Fehltritte, sondern zunehmend um das Ausschließen ganzer Perspektiven – und damit um die Verarmung unseres gesellschaftlichen Diskurses.
Ein Beispiel hierfür lieferte jüngst die Debatte um Dieter Hallervorden. In einer ARD-Jubiläumsshow präsentierte der 89-jährige Schauspieler eine abgewandelte Version seines legendären Sketches »Palim, Palim!«, in dem er das »N-Wort« und das »Z-Wort« verwendete – nicht ohne satirischen Kontext. Die Empörung in den sozialen Medien ließ nicht lange auf sich warten. Kritiker warfen ihm Rassismus vor, andere wiederum lobten den Mut zur Satire. Hallervorden selbst verteidigte sich scharf: „In Ermangelung von Mut, sich über die wirklichen Missstände zu erregen, weil diese anzuprangern grade nicht in Mode ist, ereifert man sich über einen Komiker, der auf einem Knastbett sitzt und einen berühmten Sketch mit neuem Text beginnt.“
Diese Episode zeigt exemplarisch, wie schnell öffentliche Empörung zur moralischen Zensur werden kann – oft ohne den Kontext, die Intention oder die satirische Funktion ernsthaft zu prüfen.
„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“, mahnte Rosa Luxemburg schon vor über 100 Jahren. Doch heute scheint gerade diese Freiheit in Gefahr: Wer vom Mehrheitsnarrativ abweicht, wer Unbequemes äußert oder Tabus hinterfragt, wird nicht selten als „problematisch“ abgestempelt und digital oder sozial exkommuniziert. Eine Kultur der Angst macht sich breit – nicht vor der Wahrheit, sondern vor den Reaktionen auf das Aussprechen dieser.
Dem gegenüber steht das Prinzip der Cognitive Diversity – also der Vielfalt des Denkens. In der Natur überlebt nicht die stärkste Art, sondern jene, die sich am besten anpasst – so wusste es Charles Darwin. Übertragen auf den gesellschaftlichen Diskurs bedeutet dies: Nur durch das Zusammenspiel unterschiedlichster Gedanken, Erfahrungen und Weltanschauungen entstehen echte Innovationen, Lösungen und tiefere Wahrheiten.
Die Cancel Culture aber gleicht einer intellektuellen Monokultur. Und wie jede Monokultur ist auch sie anfällig für Krankheit und Zerfall. Wer Meinungen nur duldet, wenn sie in den ideologischen Rahmen passen, verliert nicht nur den Kontakt zur Realität, sondern auch das kreative Potenzial des kollektiven Geistes. Schon der indische Philosoph Sri Aurobindo erkannte: „Vielfalt ist das Gesetz der Natur, Einheit ihr Ziel.“ Das heißt: Einheit entsteht nicht durch Gleichschaltung, sondern durch harmonisches Zusammenspiel der Verschiedenheit.
Fazit:
Was wir brauchen, ist kein moralischer Totalitarismus im Gewand der Gerechtigkeit, sondern eine Kultur des Dialogs, der Toleranz und des Mutes zum Dissens. Nicht jede Meinung muss geteilt, aber jede muss gehört werden dürfen. Denn Freiheit des Denkens ist der Sauerstoff einer lebendigen Demokratie. Und echte kognitive Vielfalt ist der Humus, auf dem eine zukunftsfähige Gesellschaft gedeihen kann.
joachim-nusch.de
https://www.spiegel.de/kultur/tv/dieter-hallervorden-bei-75-jahre-ard-die-grosse-jubilaeumsshow-rassismusvorwuerfe-wegen-sketch-a-e6814c80-f9b5-453e-b2f7-5f15a9847bf8